Jenseits der Schneegrenze

Marcel Ramin Derakhchan - 13. August 2021

Karrierepfade von Frauen in MINT-Berufen

Eine Studie der dla digital leaders advisory

Genderdiverse Teams sind besser. Sie treffen schnellere und bessere Entscheidungen, sind kreativer, widerstandsfähiger in Stressphasen, motivierter und attraktiver für neue Talente. Diese Tatsache wurde inzwischen von zahlreichen Studien und Erfahrungsberichten bestätigt. Dennoch sind Frauen in Führungsteams nach wie vor stark unterrepräsentiert – und das obwohl immer mehr erfolgreiche Abiturienten und Hochschulabsolventen weiblich sind. Lediglich knapp jede dritte Führungskraft ist heute weiblich, in den MINT-Berufen beträgt der Anteil nicht einmal zehn Prozent. Die deutsch-schwedische AllBright Stiftung, die sich für mehr Diversität in den Top-Positionen der Wirtschaft einsetzt, hält in ihrem aktuellen Bericht fest, dass lediglich sieben Prozent der Geschäftsführungspositionen in den 100 größten deutschen Familienunternehmen mit Frauen besetzt sind. Und auch unter den 160 an der Frankfurter Börse notierten Konzernen liegt der Anteil weiblicher Vorstände bei nur zehn Prozent.

Gründe

Die Gründe für diese Situation sind inzwischen umfassend erforscht. Zu den wesentlichen Hürden zählen einerseits die in Jahrzehnten (wenn nicht Jahrhunderten) ausgebildeten Machtstrukturen und Netzwerke, sowie die familienbedingten Unterbrechungen, denen häufig keine Rückkehr auf eine gleichwertige Position folgt. Zudem ist der Frauenanteil an den Absolventen der MINT-Studienfächer nach wie vor stark unterproportional, was sich dann im fehlenden weiblichen Nachwuchs für Führungspositionen spiegelt.

Lösungen

Wie können Lösungen aussehen? Der Gesetzgeber hat mit dem Zweiten Führungspositionengesetz (FüPoG II) ein verbindliches Framework geschaffen, um mehr Frauen in die Vorstände großer Unternehmen zu bringen. Gleichzeitig wächst auch der gesellschaftliche Druck auf die Unternehmen, ihre homogenen Strukturen aufzubrechen und Rahmenbedingungen für gleichberechtigte weibliche Karrieren zu gewährleisten. Diese Instrumente können jedoch nur greifen, wenn auch ein kultureller Wandel initiiert wird und bestehende Muster kritisch hinterfragt und bewusst verändert werden.

Bühne frei

Vor allem aber ist es essenziell, weniger über Frauen in Führungspositionen zu sprechen – sondern mit ihnen. Deshalb hat die Initiatorin der Studie, Barbara Apergis von dla digital leaders advisory, mit einigen außergewöhnlich erfolgreichen Frauen im MINT-Bereich Tiefeninterviews geführt und wertvolle Einsichten über ihre Erfolgsrezepte, Entscheidungen und bewältigten Herausforderungen gesammelt. Die Gesprächspartnerinnen stammen aus den Bereichen IT Consulting, Informationstechnik, Maschinen- & Anlagenbau sowie Softwareentwicklung, haben zum Teil in ihren Fachbereichen promoviert und besetzen dort führende Positionen in den Feldern AI (Künstliche Intelligenz), Data Science, R&D, sowie Digital Innovation.

„Karriere machen ist ein bisschen wie Bergsteigen“, hat eine unserer Gesprächspartnerinnen es formuliert. „Zuerst wandert man gemütlich los, dann kommt man immer höher und genießt die Aussicht. Erreicht man die Schneegrenze, ändert sich plötzlich die Welt: man braucht eine Seilschaft, ein Steigeisen und ein Netz.“ Ein treffender Vergleich, denn auch die Geschichte des Alpinismus war lange eine Erzählung, bei der Frauen zwar auf dem Berg, aber nicht in den Büchern vorkamen. Zeit, das zu ändern.

WHY MINT | Technologie hat kein Geschlecht

„Wer soll die Zukunft bauen, wenn nicht wir?“

Frauen, die sich für einen MINT-Beruf entscheiden, tun das nicht wegen institutioneller Förderung – sondern ihr geradezu zum Trotz. Bildungseinrichtungen und andere Institutionen transportieren noch immer typische Berufsmuster und lenken junge Frauen eher in „typisch weibliche“ Fachrichtungen wie Sprach- und Sozialwissenschaften. Fast immer sind es enge Familienmitglieder, die auf dem Weg zum MINT-Beruf als Vorbilder und Förderer fungieren.

„Meine Eltern sind Naturwissenschaftler…“ 

„Durch meinen Vater habe ich schon sehr früh ein großes technisches Verständnis gehabt…“

„Auch mein Vater hat Elektrotechnik studiert…“

„Ich habe mir schon früh selbst das Programmieren beigebracht – mein Vater hat das unterstützt…“

Wer sich bewusst gegen das eingefahrene Gleis entscheidet, hat mehr im Sinn als Status und Einkommen. Denn die sind einfacher zu haben. Und so berichten die Gesprächspartnerinnen auch erstaunlich konsistent von dem Wunsch, in ihrem Beruf Sinn und Nutzen stiften zu wollen. Dabei geht es einerseits um die Chance, die Zukunft mitzugestalten, die Potenziale von Technologien und Forschung für eine positive Transformation zu nutzen.

„Durch Technologie vernetzen sich Menschen und können besser kommunizieren.
Es motiviert mich, dazu einen Beitrag zu leisten…“

„Die IT wird die Zukunft zentral mitgestalten. Daran teilzuhaben ist sehr inspirierend…“

„Die Technik zu nutzen, um etwas Gutes damit zu tun, um einen Wert zu schaffen
– dafür stehe ich jeden Tag gern auf…“

„Ich will etwas bewegen, die Welt verändern…“

„Ich will eine aktive Rolle einnehmen, damit die Zukunft uns nicht überrollt,
sondern dass wir sie gestalten können…“

„Dass ich die Dinge zum Besseren hinbewegen kann, gibt mir Zufriedenheit…“

Andererseits bezieht sich der Gestaltungswunsch auch auf das soziale Umfeld – die Weiterentwicklung von Teams durch Coaching, Befähigung und Ermutigung und eine intensive, spannende und motivierende Kommunikation innerhalb eines sozialen Ökosystems.

„Mein Team zu befähigen und weiterzuentwickeln motiviert mich sehr…“

„Ich verstehe mich als Übersetzerin: technische Produkte sind heute komplex und kaum greifbar,
dass sie übersetzt werden müssen – von jemandem, der beide Sprachen spricht…“ 

Wesentlicher Teil dieser Kommunikation ist eine spezifische Übersetzungsleistung – das Setzen technologischer Themen in einen gesellschaftlichen Kontext und die Verdeutlichung des Nutzens, den Technologie im Hinblick auf zentrale Fragestellungen stiften kann.

WAY TO THE TOP | Die Heldinnenreise„Wer soll die Zukunft bauen, wenn nicht wir?“

„Etwas mehr Machiavelli täte uns Frauen oft gut.



Ihre Erfahrungen reflektierend, stellen die Gesprächspartnerinnen heraus, dass die Öffnung der MINT-Berufe für Frauen bereits in der Frühbildung beginnen und konsequent über alle Bildungsschritte fortgeführt werden muss – mit stärkerer Anwendungsorientierung, frühen Praktikumsangeboten und besserer Didaktik.

Bildung neu gedacht

Im Laufe der Bildungsreise spielen gleichzeitig erfolgreiche Role Models eine zentrale Rolle – es gelte, die Geschichten erfolgreicher Frauenkarrieren in den „harten“ Fächern greifbar zu machen, um eine positive Sogwirkung zu erzielen. Dabei wünschen sich die Gesprächspartnerinnen einen aktiveren Einsatz von Medien und Industrie: in der direkten Kommunikation mit den Schülerinnen und Studentinnen, bei der Berichterstattung über erfolgreiche Frauen in den MINT-Berufen, im Hinblick auf die Veränderung des trockenen und unter Gendergesichtspunkten unausgewogenen Images von Technologieunternehmen.

Technologie und Digitalisierung sind mehr als in den Jahrzehnten zuvor die treibenden Kräfte der gesellschaftlichen, ökologischen und ökonomischen Transformation. Die Chancen, die durch eine aktive, gestaltende Teilhabe an diesem Prozess entstehen, gilt es als attraktive Bildungs- und Karrierewege darzustellen, die Frauen nicht verschlossen bleiben dürfen.

„Wir müssen so früh beginnen wie möglich: im Kindergarten und in den Grundschulen…“

„Es braucht langfristig angelegte Orientierungsmaßnahmen schon in den Schulen …“

„Es braucht schon früh Mentoren und Vorbilder, um junge Frauen zu begeistern…“

„Mädchen sollten früh genug die Technologie in die Hand bekommen und sehen,
welche erstaunlichen Karrieren sie in der Technologiebranche machen können…“

Strukturen ändern

Doch auch der erfolgreiche Einstieg in einen MINT-Beruf garantiert noch nicht gleichwertige Karrierechancen. Dass Frauen nach wie vor zu selten in Managementpositionen ankommen, liegt nach Einschätzung der Befragten nicht in erster Linie an fehlenden Talenten, sondern an den konservativen und familienunfreundlichen Strukturen, die für Führungsrollen nach wie vor prägend sind. Hinzu komme ein Problem, das Sheryl Sandberg mit „Don’t leave, before you leave!“ beschrieben hat. Oft verabschieden sich Frauen schon lange, bevor sie eine Familie gründen, und lehnen Managementaufgaben im Vorgriff auf ihre Kinderpause ab. Eine größere Flexibilität, hybride Präsenzmodelle und die Reduzierung der Reisetätigkeit könnten dabei eine wesentliche positive Rolle spielen – sie haben in der Corona-Krise bereits den Praxistest bestanden. Gerade, wenn der Nachwuchs noch im Kleinkindalter und eine intensive Reisetätigkeit für Mütter kaum realisierbar ist, könnte das für eine deutliche Entlastung sorgen.

Ein weiterer zentraler Faktor ist der strukturelle Nachteil, der Frauen beim Aufbau unternehmensinterner Netzwerke, Mentoring-Strukturen und Koalitionen hinderlich ist.

„Mehr Frauen würden mehr Frauen fördern – die kritische Masse ist noch nicht erreicht…“

„Auch Frauen brauchen Mentoren, die sie pushen… ohne sie wird es schwer auf dem Weg nach oben…“

„Karriere machen ist ein bisschen wie Bergsteigen. Ab der Schneegrenze ändert sich plötzlich die Welt:
man braucht eine Seilschaft, ein Steigeisen und ein Netz…“

Wie die Gesprächspartnerinnen betonen, komme man ab einer bestimmten hierarchischen Flughöhe ohne ein strategisch kluges Netzwerk kaum voran. Doch einerseits fehlt es Frauen gegenüber ihren männlichen Kollegen sowohl an potenziellen Mentorinnen als auch an Netzwerkpartnerinnen auf den oberen Führungsetagen. Und andererseits sei das strategische Networking, die gegenseitige Unterstützung auf dem Weg nach oben, die Schaffung von Mehrheiten, eine gelernte und habitualisierte Strategie. Diese gehöre bislang jedoch kaum zum weiblichen „Ausbildungskanon“. Die Gesprächspartnerinnen betonen einhellig, dass es für Frauen deshalb dringend notwendig sei, die Kunst der strategischen Vernetzung zu lernen.

Selbstbewusst werden

Die Kenntnis von unternehmenspolitischen Zusammenhängen und die Fähigkeit, strategische Instrumente auf dem Karriereweg einzusetzen, genügen jedoch nicht. Es braucht den Willen, sie auch einzusetzen. Und dazu gehört auch das Trommeln in eigener Sache. Gute Arbeit allein spricht eben nicht für sich selbst. Entsprechend selbstbewusstes, zielorientiertes Auftreten ist nötig – Eigenschaften, mit denen Frauen nach Einschätzung der Gesprächspartnerinnen sehr oft fremdeln. Es braucht Selbstvertrauen und Mut, Ecken und Kanten zu zeigen, Dinge einzufordern und nicht in erster Linie auf Harmonie zu setzen.

„Wir müssen dringend beginnen, die Selbsteinschätzung von Mädchen zu stützen“

„Männer trauen sich, Ecken und Kanten zu zeigen – sie sind damit greifbar und man weiß, wofür sie stehen, während Frauen eher versuchen, es allen recht zu machen…“

„Frauen stehen sich oftmals selbst im Weg: zuerst wissen Sie nicht, was sie wollen… 
dann sagen sie nicht, was sie wollen… “

„Frauen müssen verstehen, wie das Spiel geht. Mehr machiavellistische Eigenschaften täten Frauen gut…“

Allerdings betonen die Studienteilnehmerinnen auch, dass Frauen dabei oft vor systemischen Hürden stehen: Denn Beförderungen folgen sehr stark einem intuitiven Konformitätsdruck, bei dem diejenigen bevorzugt werden, die den Vorgesetzten am meisten ähneln – das inzwischen auch wissenschaftlich klar belegte „Mini-Me“ oder „Thomas-Prinzip“. Es sei deshalb dringend notwendig, die Beförderungsmechanismen und -prozesse zu objektivieren und Entscheidungskriterien transparent zu machen.

„Frauen müssen in der männerdominierten Arbeitswelt eine Fremdsprache lernen…“

„Viele Führungskräfte streben nach größtmöglicher Reibungslosigkeit und schaffen im Resultat große Einseitigkeit…“

„Männer stellen Männer ein, die ihnen ähneln, selbst im Namen…“

Kultur der Diversität

Entsprechende Veränderungen und Initiativen in Unternehmen werden jedoch nur von Erfolg gekrönt sein, wenn sie von einer entsprechenden Kultur getragen werden. Die Frage lautet: Werden die zu einem besseren Vorankommen der Frauen notwendigen Veränderungen auf breiter Front verstanden, akzeptiert und als unverzichtbar und wertvoll empfunden?

Hier haben die Gesprächspartnerinnen erhebliche Zweifel. Gelerntes Verhalten, tradierte Denkmuster und eine fehlende Fähigkeit zum Perspektivenwechsel erschweren den kulturellen Wandel. Denn das Aufbrechen bestehender informeller Mechanismen und Verhaltensmuster und das Öffnen der Netzwerke erfordern im Vorfeld bei den männlichen Kollegen auch eine intensive und kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Wertvorstellungen, der eigenen Rolle und den Auswirkungen der eigenen Entscheidungen. Und nicht zuletzt geht es, wie die Studienteilnehmerinnen betonen, auch um einen Verlust von Status und Macht. Was in Summe nicht selten dazu führe, dass Diversity zu einem Lippenbekenntnis degradiert wird. Deshalb sei es entscheidend, den kulturellen Wandel nicht nur durch eine aktive Kommunikation und Leitbildproduktion zu flankieren, sondern auch durch systemische Maßnahmen. Dazu zählen unternehmensindividuelle und allgemein verbindliche Quoten und Vorgaben ebenso wie die Schaffung von transparenten Prozessen und regulierenden Positionen wie etwa die eines Diversity Managers.

„Oft geht es bei Diversity Themen vor allem um die Reputation …“

„Diversität ist etwas für die Mächtigen, um sich besser zu fühlen…“

„Nicht überall, wo Diversität draufsteht, ist auch Diversität drin…“

GET BETTER | Auf dem Weg zu einer Kultur gleicher Chancen

„Wir müssen prähistorische Geschlechterrollen aufbrechen.“

Die Studie hat aufgezeigt, dass gerade in MINT-Berufen nach wie vor tradierte, von unseren Gesprächspartnerinnen als „prähistorisch“ bezeichnete Muster prägend sind. Sie sind dafür verantwortlich, dass das Potenzial engagierter und talentierter Frauen nicht ausgeschöpft werden kann. Doch dieses Potenzial ist nur eine Seite der Medaille. Mindestens genauso wichtig ist die Frage, wie die Unternehmen aussehen sollen, in denen wir künftig arbeiten wollen. Wenn die Vision einer Organisation Realität werden soll, die von Vielfalt, Offenheit, Gerechtigkeit und Kreativität geprägt ist, die Chancen bietet, Familiengründungen nicht bestraft und klandestine Intrigenspiele nicht belohnt, dann gibt es noch viel zu tun. Dann gilt es, eine Transformationsaufgabe in Angriff zu nehmen, die einen Wandel in mehreren Dimensionen erfordert. Die Teilnehmerinnen der Studie haben diese Dimensionen aufgezeigt. Gefragt sind dabei alle – die gesellschaftlichen Institutionen, die Erziehungs- und Ausbildungseinrichtungen, die Familien, die Unternehmen und natürlich auch die Frauen selbst. Packen wir es an!

Ansatzpunkt für mehr Gerechtigkeit in Führungspositionen

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