„Der CTO der Zukunft muß das Gras wachsen hören“ – Interview mit Dr. Frank Melzer

Marcel Ramin Derakhchan - 14. Januar 2022

Herr Dr. Melzer, Wie hat sich die Rolle des CTO in den letzten Jahren verändert?

In der klassisch-funktionalen Welt ist der CTO für Entwicklungsprojekte verantwortlich, insbesondere dort, wo es einen hohen Anteil an Software und digitalen Strukturen gibt. Diese Rolle kann der CTO aber nicht mehr unverändert weiterspielen. Denn Unternehmen müssen sich immer stärker in Gebiete vorwagen, die für sie mit hoher technologischer Unsicherheit behaftet sind. Es fehlen Historie und Erfahrung, was sich etwa beim Thema KI zeigt. Die meisten Unternehmen, die sich heute mit der Entwicklung KI-basierter Produkte beschäftigen, betreten Neuland. Hinzu kommt eine weitere Dimension der Unsicherheit – Markt und Kunde. Gerade im Kontext der Digitalisierung fehlen auch den Kunden Erfahrungen und Routinen, es ist häufig nicht eindeutig, was wirklich gebraucht wird – etwa im Hinblick auf den Einsatz einer KI-Lösung in der Fertigung, um beim Beispiel zu bleiben. Das typische Zusammenspiel zwischen dem Vertrieb, der die Kundenanforderungen kanalisiert und dem CTO, der darauf basierend Produkte und Services entwickelt, kann dann nicht mehr reibungslos funktionieren.

Folgt daraus, dass der CTO selbst näher an den Kunden rücken muss, weil die Anforderungen erst gemeinsam definiert werden müssen?

So ist es. Es bedarf einer wesentlich größeren Marktnähe. Der CTO muss gemeinsam mit dem Vertrieb und den Kunden die Requirements entwickeln. Und das heißt, tiefer in die für die Kunden relevanten Technologien reinzoomen, aber auch in deren Strategie, Restriktionen und Business Cases.

Dieser Einblick ist die Basis, um Technologieideen effektiv zu testen. Man muss dann mit starken Teams und Projekten schnell in den Markt gehen, um zu sehen, ob die Idee trägt, ob sie eine Differenzierung für mein Unternehmen und einen Mehrwert für meine Kunden stiftet und wie sich dieser Mehrwert kapitalisieren lässt. Gerade in der engen Zusammenarbeit mit Kunden, unter Marktbedingungen können die eigenen Fähigkeiten reflektiert und teilweise auch ganz neu bewertet und priorisiert und die Kundenanforderungen geklärt werden.

Diese Aufgabe kann der Vertrieb allein nicht bewältigen. Wenn es nicht mehr nur um die nächste Generation oder das Customizing bestehender Produkte geht, ist der CTO gefragt. Er muss den Wandel der Technologien im Blick haben und den Fokus nicht nur auf die evolutionäre Entwicklung, sondern vor allem auf neue Technologien richten, die hohe Differenzierungspotenziale eröffnen. Dabei hat derjenige den entscheidenden Geschwindigkeitsvorteil, der schnell erkennt, welche Themen am Markt gerade an Dynamik gewinnen. Diesen Vorteil kann man unmöglich halten, wenn man zuerst entwickelt und dann auf den Markt schaut, oder darauf wartet, dass Kunden ein hochstrukturiertes Requirements-Paket dem Vertrieb überreichen.

Wenn Sie jetzt Ihren Nachfolger suchen müssten, ja, worauf würden Sie heute schauen? Was muss der mitbringen neben dem, was Sie gerade skizziert haben?

Gutes Basiswissen und eine solide technische Ausbildung werden auch weiterhin unverzichtbar sein. Die Rolle des klassischen Entwicklungsleiters, der Technikthemen schnell und umfassend versteht, nach vorne bringt und Guidance gibt, bleibt bestehen.

Was nun hinzu kommt ist die Fähigkeit, die Signale des Marktes zu lesen. Zu erkennen, wo technologische Dynamiken und Sprünge entstehen, welchen Impact sie auf heutige und auch künftige Kunden haben können. Und wie daraus auch neue Geschäftspotenziale für das eigene Unternehmen entstehen können. Dafür muss der CTO einerseits bei Diskussionen mit den Kunden dabei sein, um zu verstehen, was sie bewegt und wo ihre Herausforderungen liegen. Und andererseits auch eigene Kommunikationsnetzwerke auf hoher Unternehmensebene knüpfen, um möglichst viele dieser Signale zu bekommen.

Allerdings genügt es nicht, die Kunden zu fragen, was sie bewegt und was sie brauchen. Der CTO muss über eine eigene starke technologische Vision verfügen, um mit den Kunden Potenziale neuer Technologien durchzuspielen, neue Wege zu entwickeln und auch die eigene Vision zu verifizieren, auf ihr Marktpotenzial hin zu testen. In Vertriebskategorien gesprochen, bedeutet das, nicht in Richtung Maintenance, sondern in Richtung New Business zu gehen. Diese starke Außenorientierung zeichnet den künftigen CTO besonders aus.

Muss der CTO der neuen Generation auch ein Social Leader sein, der sehr komplexe und heterogene Mitarbeiterkonstellationen stark und souverän führt?

Ja, absolut. Heute haben selbst führende Technologieunternehmen, die über eine enorme Bandbreite an Wissen verfügen, keine Chance, schnell genug alle relevanten Technologien zu adaptieren, ohne nach außen zu schauen. Aber diese Signale bekomme ich nicht, oder ich kann sie nicht lesen, wenn ich nicht ein Stück weit extrovertiert bin, offen, bereit neue Formen der Kooperation und des Austauschs zu akzeptieren. Und ich muss mich auch mit Dingen, mit Technologien beschäftigen, die noch nicht durchentwickelt und standardisiert sind, die noch gestaltbar, die im Wandel sind. Das hat starken Einfluss darauf, wie ich führe, wie ich überzeuge und bewerte, wie ich eine Vision formuliere und das Ausprobieren zulasse. Und auch darauf, wen ich führe. Eben ein Netzwerk starker, selbstbewusster Partner und Experten innerhalb und außerhalb des Unternehmens und nicht ein klar umgrenztes Team von Ingenieuren, die stolz darauf sind, alles selbst zu machen.

Das ist das eine. Das andere ist, dass man sich in solchen Konstellationen ja nicht auf das Führen beschränken kann. Da geht es sehr stark auch um Moderation, Beobachtung, Überbrückung kultureller Differenzen, Partnerschaften, M&A Aktivitäten… Das wird nach wie vor häufig unterschätzt. Es geht um ein Ökosystem. Und Ökosysteme kann man nicht im herkömmlichen, linearen Sinn des Wortes führen.

Dinge auszuprobieren und Neuland zu betreten führt unvermeidbar zu einer massiven Zunahme an Risiken und Unsicherheit mit denen der CTO umgehen muss.

Das ist vielleicht der wichtigste Punkt, der größte Schritt. Klassischerweise ist ein CTO technisch-analytisch ausgebildet. Er ist gewohnt, seine Ingenieurskunst einzusetzen, um eine hohe Sicherheit zu erzeugen und möglichst viele Parameter zu kontrollieren. Bei der Markt- und Technologiedynamik, die wir heute haben, kann man diesen Anspruch und das darauf aufbauende Managementverständnis jedoch nicht mehr aufrechterhalten. Deshalb kommen neue Themen auf die Agenda des CTO, wie Risikomanagement, Iterationen, Co-Creation, Prototyping und so weiter. Und natürlich auch Abbrüche von Projekten, Holzwege, die bei neuen Themen unvermeidbar sind. Es ist deshalb wichtig, aus Fehlern zu lernen und sie als wertvolle Wissensressource zu begreifen. Viele sehr erfolgreiche Unternehmen tendieren dazu, aus ihren eigenen Success Stories zu lernen. Aber dieses Reservoir ist sehr begrenzt. Die wirklichen Lernfelder sind die Problemfelder. Ein moderner CTO muss die Fähigkeit und Souveränität haben, mit Problemen umzugehen und sie fruchtbar zu machen.

Sollte ein CTO auch CEO können? in Hinblick auf das Thema Fehlerkultur Veränderung?

Ich weiß nicht, ob sich die Frage generell beantworten lässt. Aber in Unternehmen, die sich schnell in neue Gebiete fortbewegen, die von Technologien geprägt sind, ist eine Annäherung der beiden Funktionen naheliegend. Es ist notwendig, die technologische Basis zu verstehen und die Unsicherheiten, die mit neuen, technologiegetriebenen Geschäftsmodellen verbunden sind, zu managen. Gerade dann, wenn die Technologiesprünge und Investitionen besonders groß sind, wie etwa in der Chipindustrie. In solchen Unternehmen hatten die CEOs auch in den vergangenen Jahrzehnten sehr häufig einen technischen Hintergrund.

Der legendäre Intel-Manager Andy Grove, oder auch Steve Jobs sind sehr gute Beispiele dafür. Solche Persönlichkeiten haben oft auch Führungsmodelle entwickelt, die es ihnen ermöglicht haben, mit hohen Risiken und Unsicherheiten, den ständig drohenden Disruptionen, effektiv umzugehen. Dazu gehört auch eine starke Intuition, eben die Bereitschaft, das Gras wachsen zu hören, zu erkennen, wo sich im Markt neue technologische Dynamiken entwickeln und sie mit der eigenen Vision zu verknüpfen und den eigenen technologischen Weg immer wieder auf den Prüfstand zu stellen.

Hinzu kommt die Notwendigkeit, weniger in technologischen Missionen, sondern umsetzungsorientiert in Business Cases zu denken, um Risiken beherrschbar und knappe Ressourcen fokussiert zu halten. Der CTO muss in Zukunft also mehr betriebswirtschaftliches Wissen mitbringen, stärker in wirtschaftlichen Kategorien denken und deutlich enger mit den Kunden arbeiten als noch vor zehn Jahren.

An diesen Punkten gibt es, zumindest in technologiegetriebenen Unternehmen, also eine starke Annäherung zwischen dem CEO und dem CTO. Aber müssen diese Rollen in einer Person konvergieren? Ich denke nicht. Aber ein enges Zusammenspiel und eben die Fähigkeit die jeweils andere Perspektive zu nutzen, ist auf jeden Fall kritisch. Wir sehen im Markt immer wieder, dass Technologieunternehmen, die keinen CTO in der obersten Führungsriege haben, langfristig nicht besonders gut damit fahren.

Dr. Franz Melzer ist CTO bei Festo und fokussiert sich als Vorstandsmitglied auf Product and Technology Management, zu dem unter anderem die Bereiche Digital Business sowie Corporate Research and Innovation gehören . Er leitet den Lenkungskreis der Plattform Industrie 4.0 für die Digitalisierung der Wirtschaft in Deutschland.


Marcel Ramin Derakhchan ist bei dla digital leaders advisory verantwortlich für die Besetzung von Top-Managementfunktionen in Business & Professional Services Unternehmen sowie Software- und Hochtechnologieunternehmen. Sein Spezialgebiet sind komplexe Suchmandate, die einen interdisziplinären Ansatz aus Search, Organisationsberatung und individuellem Coaching erfordern.