Wichtig ist die Projektperformance – Kundenzentrierung in der Automobilindustrie – Teil 2

Marcel Ramin Derakhchan29. April 2019

Für die Automobilindustrie bietet die Digitalisierung größere Chancen, als mit „smart“ vernetzen Fahrzeugen das nächste Apple-Car zu verhindern: warum das entscheidende Potenzial im Wandel von der Produkt- zur Kundenzentrierung liegt, erläutert Dr. Rainer Mehl von Capgemini Invent im ersten Teil dieser dla Perspektive. Wie das Management diesen Wandel mittels „Digital Leadership“ im Unternehmen gestalten kann, diskutieren Rainer Mehl und Marcel Derakhchan im ersten Teil des Gespräches.

Zum ersten Teil des Interviews

Herr Dr. Mehl, Ihre Studie „The Need for Speed“ enthält einige Warnsignale für die digitale Transformation in der Automobilindustrie – nur eine Minderheit der Befragten glaubt, dass ihr Unternehmen mit den dazu notwendigen Fähigkeiten ausgestattet ist. Das ist doch ein erstaunlicher Widerspruch zu all den Digitalisierungs-Leuchtturmprojekten der Branche, oder?

RM: Auf den ersten Blick mag das so erscheinen. Aber auf den zweiten Blick zeigt sich in der Regel ein gemeinsamer Nenner dieser Projekte: der digitale Zwilling in F&E, die Smart Watch in der Fertigungslinie oder der virtuelle Showroom beim Händler nutzen einzelne Technologien als Ankerpunkte der Digitalisierung.

Das ist auch richtig so, aber die digitale Transformation eines Unternehmens umfasst ja wesentlich mehr – etwa die Beziehung zum Kunden, das digitale Know-how der Belegschaft in allen Abteilungen und natürlich die Fähigkeit, sein Geschäftsmodell weiterentwickeln zu können. Und in diesen essenziellen Punkten zeigt unsere Studie alarmierende Defizite der Automobilbranche gegenüber anderen Branchen.

„Digitalisierung im Sinne von ‚digitalisiere die Welt deines bisherigen Geschäftsmodells‘ ist viel zu kurz gedacht.“

Herr Derakhchan, beobachten Sie diesen Nachholbedarf bei der Besetzung von Top-Management-Positionen in der Industrie ebenfalls?

MD: Natürlich gibt es einen „Gap“ zwischen den Herausforderungen der Digitalisierung und der passenden Expertise. Im Falle der Automobilindustrie sollte man aber auch nicht vergessen, dass sich die seit fast 100 Jahren gewachsenen, komplexen Wertschöpfungsstrukturen hinter dem Produkt Auto nicht in zehn Jahren neu erfinden lassen. Das zeigen ja die Probleme bei Tesla und die überschaubaren Erfolge von „agilen Marktdisruptoren“ wie Borgward, Polestar oder dem Apple-Car.

Aber ich stimme Herrn Mehl zu, dass „Digitalisierung“ im Sinne von „digitalisiere die Welt deines bisherigen Geschäftsmodells“ viel zu kurz gedacht ist. Ein Produkt und dessen Fertigung besser zu machen, ist richtig, aber auch ein „weiter wie bisher“ mit neuen, eben digitalen Tools. Mittel- bis langfristig reicht das aber nicht mehr aus. Denn die GAFA-Riege (Google, Apple, Facebook, Amazon) der Technologiekonzerne und deren asiatische Pendants positionieren sich ganz deutlich in Richtung von Mobilitätsdienstleistungen …

RM: … und damit im ursprünglichen Kerngeschäft der Automobilindustrie. Hier sehe ich dringenden Handlungsbedarf, mit der digitalen Transformation vor allem den Wandel von einer produkt- zur kundenzentrierten Geschäftsstrategie zu meistern.

Worauf sollten sich dazu zum Beispiel Führungskräfte bei Automobilherstellern fokussieren?

RM: Generell auf zwei Punkte: erstens, die digitale Customer Journey rund um das Produkt „Fahrzeug“ nachvollziehen und Chancen für Mobilitätsdienstleistungen identifizieren. Womit könnte ich meine Kunden begeistern, über das Fahrerlebnis hinaus? Etwa, in dem ich sie auch mit anderen Verkehrsmitteln schneller von A nach B gelangen lasse?

„Wenn man gegen die GAFA-Wettbewerber bestehen will, muss man zu den gleichen asymmetrischen Waffen greifen, wie sie es tun.“

Zweitens, wenn man gegen die von Herrn Derakhchan genannten GAFA-Wettbewerber bestehen will, muss man zu den gleichen asymmetrischen Waffen greifen, wie sie es tun. Also auch hier alle Räume der digitalen Vernetzung meines Kunden identifizieren und besetzen, die über das Fahrzeug hinaus spannend sind: Pay-per-Klick beim Parken und Tanken, Versicherungsleistungen nach Fahrverhalten, Flottenleasing per Blockchain-Contracting. Wenn man als OEM solche Chancen nicht nutzt, tun es garantiert andere.

Klingt nach einer unüberschaubaren Zahl von Baustellen …

RM: Klar, einfach ist das nicht. Aber als Führungskraft, ob TOP-Ebene oder in anderen Hierarchiestufen, steht man bei einem Automobilhersteller ja nicht alleine da. Es lohnt sich, die Partner in den vorhandenen Wertschöpfungsstrukturen – Zulieferer, Händler, Aftersales, Drittparteien wie Versicherungen und Finanzdienstleister – unter einem anderen Blickwinkel zu betrachten: mit wem lässt sich mit welchen digitalen Hilfsmitteln schnell ein Ökosystem aufbauen, das neue Kunden anspricht und vorhandene an die Marke bindet? Ebenfalls eine asymmetrische Waffe, die Amazon & Co. so gut beherrschen …

MD: Außerdem darf man nicht das Potenzial innerhalb der Organisation unterschätzen, dass ja bei OEM durchaus vorhanden ist. Hier besteht natürlich eine ähnliche Herausforderung: „digital Leadership“ bedeutet für mich auch, intelligent vernetzte Ökosysteme innerhalb des Unternehmens zu schaffen. Nicht nur um IP (Intellectual Property) zu schützen, sondern um mit cross-funktionalen Projekten diese IP auch zirkulieren zu lassen – genau das verschafft global Playern wie Google, Netflix oder Amazon ja auch die vielbeschworene Agilität. Agilität ist nun aber nicht deren Erfindung, sondern lässt sich mit jeder Führungsmannschaft erreichen, die Silo-Strukturen von F&E, Marketing, Einkauf, Fertigung usw. auflösen und in ein konstruktives neues System, oder besser: in eine neue Kultur überführen kann.

Allerdings steht dem doch der Punkt entgegen, den Sie anfangs nannten: Unternehmenskulturen aus über Jahrzehnten gewachsenen, komplexen Wertschöpfungsstrukturen lassen sich nicht in zwei Jahren neu erfinden …

RM: In der Tat erleben es sehr viele Automobilunternehmen als großes Hindernis in ihrer digitalen Transformation, eine entsprechende Kultur zu etablieren – in unserer „Need for Speed“ Studie sogar als mit Abstand größtes Hindernis. Und richtig, diese Silos und die bestehenden Hierarchien, die sind hart verdrahtet. Sie sind fest im Karrieresystem verankert, aber auch, im Beurteilungssystem und Belohnungssystem. Da berührt der Wandel fundamentale Aspekte der Organisation. Interessanterweise ist es aber zugleich so, dass sowohl Mitarbeiter als auch Führungskräfte hier ganz klar die Führungsmannschaft in der Verantwortung sehen, Vorbildfunktion für neue Arbeitsweisen zu übernehmen.

Hier sollte man bitte auch nicht vergessen, dass eine „digitale Kultur“ nicht allein technologiegetrieben ist. Wer als Führungskraft durchsetzt, dass eine Schichtplanung per Doodle-App eine vielleicht weniger agile Workforce-Management IT ersetzt, fördert einen „digitalen Spirit“ im Unternehmen. Das ist für die prozessual-operative Seite der Medaille wichtig, keine Frage.

Aber ohne die andere Seite, die strategisch-visionäre Überzeugung, versandet jeder kulturelle Wandel schnell. Da gab es in jüngerer Vergangenheit auch manch ein Missverständnis – Hängematten, Gratis-Latte Macchiato und VR-Brillen schaffen keine neuen Kulturen. Neue Kulturen schaffen Leader, die im operativen klare Zielvorgaben machen und es zugleich verstehen, dem Team Sinn und Zweck der Tätigkeit zu vermitteln – etwa in Richtung einer Unternehmensrolle als besonderer Mobilitätsdienstleister, über die wir sprachen. Dazu braucht es Führungskräfte, die diesen „Purpose“ entwickeln, artikulieren und in greifbare Ergebnisse transformieren können.

„Ohne strategisch-visionäre Überzeugung
versandet jeder kulturelle Wandel.“

Klingt schlüssig – aber wo sollte man konkret ansetzen?

RM: Die Startbedingungen sind natürlich in jeder Firma unterschiedlich. Aber generell empfehle ich den Aufbau eines digitalen Center of Excellence (CoE), um für Führungskräfte für den digitalen Wandel zu befähigen – und vor allem eine direkte Sichtbarkeit des Themas und der Fortschritte in den Vorstand zu schaffen.

Als digitale Plattform soll ein CoE sicherstellen, dass Führungskräfte auf die Fähigkeiten und das Fachwissen in der gesamten Organisation zurückgreifen können. Idealerweise ist es in einem festen Zuständigkeitsbereich, etwa bei einem CDO (Chief Digital Officer) verortet und verfügt über ein eigenes Budget, um kritische Projekte durchzuführen, die von mehreren Geschäftseinheiten benötigt werden.

Das erscheint wieder recht funktional. Gibt es für die Automobilindustrie ein „Learning“ aus anderen Branchen für eine agilere, flexiblere Unternehmensorganisation?

MD: Da denke ich an die Consulting-Branche. In der Consulting-DNA ist die Projektarbeit an einzelnen Baustellen, die zugleich das Gespür für das große Ganze verlangt, fest eingeschrieben. Es geht mir aber weniger darum, dass Consultants den Vorteil des ungetrübten, externen Blicks auf festgefahrene Routinen haben. Sondern darum, dass unsere Arbeit stets an der Projektperformance gemessen wird. Man erhält projektbezogene Ziele, wird daran beurteilt, gute Ergebnisse fließen später in die Organisation, in einen Performance-Review ein usw. Aber die Grundlage ist das, was im Projekt geschieht. Übertragen auf die Automobilindustrie heißt das: Wer sich Erfolge und Fehler klar vor Augen hält, verliert bei der digitalen Transformation nicht den Grip.

RM: Diese Einschätzung teile ich. Metaphorisch gesprochen, leben wir als Berater schon immer in Zelten, wir haben keine Paläste. Sondern wir bauen unsere Zelte dort auf, wo wir Projekte haben. Und wir holen in diese Zeltlager die Fähigkeiten rein, die wir für das konkrete Projekt benötigen, aus der ganzen Organisation. Karrieren werden im Projekt gemacht, in diesen Zeltlagern.

Und ist das Zeltlager beendet, kommt das nächste. Es ist nicht wichtig, in irgendeinem Headquarter regelmäßig mit allen Hierarchiestufen aufzuschlagen. Wichtig ist die Projektperformance. Dieses Erfolgsmodell, die passenden Talente in den Projekten zusammenziehen, wo auch immer sie in diese stecken, ist sicherlich ein entscheidender Erfolgsfaktor bei der digitalen Transformation.

Interviewpartner

Dr. Rainer Mehl leitet als Executive Vice President das weltweite Automotive und Mobility-Geschäft von Capgemini Invent. Zusätzlich verantwortet er dort die Beratungsbereiche für Manufacturing und Life Sciences und ist Teil des globalen Führungsteams. Er unterstützt Unternehmen bei der digitalen Transformation mit den Schwerpunkten Customer Centricity, agile Organisation und neue Geschäftsmodelle.


Marcel Ramin Derakhchan ist bei dla digital leaders advisory verantwortlich für die Besetzung von Top-Managementfunktionen in Business & Professional Services Unternehmen sowie Software- und Hochtechnologieunternehmen. Sein Spezialgebiet sind komplexe Suchmandate, die einen interdisziplinären Ansatz aus Search, Organisationsberatung und individuellem Coaching erfordern.