Interview Heiko Weber: „Smart Factory ist viel mehr als Digitalisierung“

Marcel Ramin Derakhchan11. November 2018

Heiko Weber, Partner bei Berylls Strategy Advisors und Marcel Derakhchan, Managing Director der DLA Digital Leaders Advisory, über Führung und Kultur in der intelligenten Fabrik und die Chancen Deutschlands, Autoland zu bleiben

Herr Weber, Herr Derakhchan, die Smart Factory ist wesentlich offener und auch nach außen vernetzter als eine klassische Fabrik. Was bedeutet das für die klassischen Management-Instrumente? Brauchen sie ein Update?

Heiko Weber: Definitiv. Die Strukturen werden sich verändern, sie werden agiler. Klassische Hierarchiepyramiden sterben langfristig aus. In der Folge wird man Ressourcen und Qualifikationen flexibler zuweisen müssen. Die Arbeitsformen werden sich verändern – zum Beispiel werden wir in „Squads“ für die einzelnen Wertschöpfungsketten-Glieder arbeiten.

Marcel Derakhchan: ich glaube, man sollte bereits vorher ansetzen – also nicht bei den Instrumenten und auch nicht bei konkreten Skills. Sondern bei der Frage, wie die Vorstellung davon, welche Rolle man als Führungskraft eigentlich spielt, welche Gestaltungschancen man unter diesen veränderten Rahmenbedingungen hat, sich ändern muss. Das ist eine Frage der persönlichen Philosophie und auch des Management-Stils. Ich bin überzeugt, dass wir hier vor einem sehr tiefgreifenden Wandel stehen.

Löst sich im Extremfall die Smart Factory komplett in der Supply Chain auf?HW:

Das ist zwar ein Extremszenario, doch in einigen Bereichen werden wir das wohl genauso erleben. In diesen Fällen werden die Grenzen zwischen Zulieferer und OEM verwischen. Solche Systeme sind dann nicht mehr mit klassischen Führungs- und Managementmethoden steuerbar.

Ein zentrales Führungsthema in der Fabrik ist das Shopfloor Management, das nicht nur der operativen Führung und Abstimmung dient, sondern auch der Erzeugung von Gemeinschaft. Hat das Thema in der Smart Factory noch einen Platz?

HW: Shopfloor Management wird es auch in Zukunft geben, doch Werkzeuge und Fokus ändern sich. Natürlich wird der klassische Regelkreis – Abweichungen erkennen, Maßnahmen definieren, umsetzen und deren Wirkung überprüfen – künftig anders gesteuert werden müssen. Die Themen werden komplexer, die zu steuernden Systeme umfassender und Eingriffe müssen zunehmend in Echtzeit erfolgen. Die logische Folge ist, dass zukünftig Künstliche Intelligenz das digitale Shopfloor Management und diese Regelmechanismen übernimmt. Da aber in der Smart Factory auch in Zukunft Menschen arbeiten werden, muss die Community-Bildung mit anderen Methoden und einer anderen Perspektive erfolgen.

MD: Genau. In den kommenden Jahren werden wir durch eine Phase der Transformation gehen. Was den Führungskräften generell mehr abverlangt, als der Normalbetrieb. Bislang ging es in der operativen Führung weitgehend um das „wie“ der Arbeit. Um Optimierung, Effizienzsteigerung… Die Konstitution von Gemeinschaft erfolgte eher unbewusst, als Nebenfolge. Das ist in Veränderungsphasen völlig anders. Da geht es auf jeder Führungsebene darum, das „warum?“ zu erklären. Das hat schon viel mit Sinnstiftung zu tun. Aber auch mit der Thematisierung von sonst nicht hinterfragter Rahmenbedingungen, mit einem aktiven Umgang mit Ängsten und Sorgen, mit einem bewussten Community Management. Das Besondere dabei ist, dass die bisherigen Führungs- und Managementkompetenzen ja auch weiterhin gebraucht werden – die Aufgaben und Rollen von Führungskräften werden damit sehr viel anspruchsvoller, auch die psychische und emotionale Belastbarkeit wird einem neuen Härtetest ausgesetzt. Menschen zu finden, die diesem stark erweiterten Anforderungsprofil genügen, wird nicht einfach sein.

Durch die Fortschritte in Robotik und KI werden wir wohl bald gemischte Teams sehen – also Menschen und Roboter. Hat diese Entwicklung Implikationen für Kultur und Führung?

HW: Kennen Sie den Film „Nummer 5 lebt“? Ganz so weit wird die emotionale Verbindung zwischen Mensch und Maschine wohl nicht gehen. Aber natürlich werden wir die Cobots nicht nur als einen besseren Schraubenzieher betrachten. Die Menschen neigen nun mal zu Anthropomorphismus. Aus diesem Grund muss das enge Miteinander von Mensch und Maschine auch in der Führung Niederschlag finden. Der erste Schritt ist eine Kultur der Offenheit, die die Entwicklung dahin unterstützt, sodass die Mitarbeiter die neue Zusammenarbeit akzeptieren.

Was müssen die Führungskräfte dabei können?

MD: Sie brauchen neue Kompetenzen und ein tiefes Verständnis für Digitalisierung. Die Einführung von neuen Technologien erfordert immer ein ‚Reverse Mentoring‘: Die Führungskräfte können und sollten hier von den neuen, jungen Mitarbeitern die neuen Technologien erklärt bekommen. Das ist sicher ein Wandel und verlangt der heutigen Führungsschicht einiges ab.

HW: Mit Blick auf die Kultur wird die Frage interessant, wer für die Funktion der Co-Robots verantwortlich ist. In heutigen Silos ist das einfach: Wenn die Maschine nicht funktioniert, ruft der Mitarbeiter erst einen Springer, dann den Betriebsingenieur. Der macht die Instandhaltung oder die Planung für das Problem verantwortlich. Wenn wir wirklich in „Co-Laboration“ denken, wird der Mitarbeiter für seinen elektronischen Kollegen verantwortlich sein. Das ist schon ein gravierender Einschnitt.

In der Smart Factory herrscht hohe Transparenz im Hinblick auf jeden Bewegungsablauf. Hat das zur Folge, dass die Führung im Extrem vollständig algorithmisch erfolgen kann?

HW: Die Smart Factory kann eine hochautomatisierte Fabrik sein, in der hohe Stückzahlen von sehr ähnlichen Produkten produziert werden. Hier wird der direkte Produktionsprozess künftig in der Tat von durch KI beherrschbaren Algorithmen gesteuert werden können. Daneben wird es aber weiterhin menschliche Teams geben, die Führung brauchen – Instandhalter, Ingenieure und viele andere. Die Smart Factory kann aber auch eine flexible Fabrik sein, die durch Digitalisierung dazu in der Lage ist, extreme Komplexitäten und Individualisierung zu managen. Diese Produktionsprozesse werden auch über weite Strecken durch KI unterstützt und gesteuert werden, allerdings wird der Anteil der Menschen in diesem System signifikant höher ausfallen.

MD: In beiden Fällen bleiben Menschen in der Fabrik. Und Menschen brauchen Führung – das ist weder heute noch morgen eine Frage von Algorithmen oder mathematischen Optima. Sie können Arbeitsorganisation an Algorithmen auslagern. Aber keine Führung.

Wenn Datenanalysen, intelligente Assistenten, AR-Tools und smarte Exoskelette zum Standard werden: Haben Intuition und Erfahrung überhaupt noch eine Relevanz?

HW: Menschliche Erfahrung wird immer ein differenzierender Faktor bleiben, doch nicht in allen Bereichen. Künftig braucht es keine Erfahrung mehr, um etwa in einer Motormontage nach einem gescheiterten Kalttest zu ermitteln, wodurch der Fehler verursacht wurde. Das wird in Zukunft über Machine Learning automatisiert passieren. Stattdessen werden aber Erfahrungen benötigt, um die Funktionsweisen und Grenzen der Algorithmen zu verstehen und zu wissen, wann man eingreifen muss. Für das Management digitaler und teilautonomer Produktionssysteme brauchen wir verstärkt digitale und algorithmische Erfahrung sowie Verständnise“

Dass der souveräne Umgang mit Daten künftig zur zentralen Managementkompetenz wird, ist inzwischen kein überraschender Befund mehr. Aber es kann doch nicht alles sein, was die Führung in der Smart Factory ausmacht?

HW: Nein, natürlich nicht. Die Smart Factory geht über die Digitalisierung hinaus. Wir sprechen auch von zunehmend international vernetzten globalen Netzwerken. Und deshalb wird kulturelles Verständnis eine noch größere Rolle als heute spielen. Dazu kommt die Notwendigkeit, mit deutlich mehr Partnern zusammenzuarbeiten oder zumindest in ganz neuen Konstellationen. Mit Cloud-Anbietern, Plattformbetreibern, Softwarezulieferern und vielen mehr. Das Ausbalancieren unterschiedlicher Interessen und Kulturen wird wichtiger. Das intensivere Involvement der Kunden in frühen Phasen des Entwicklungs- und Produktionsprozesses verlangt zudem neue Fähigkeiten und soziale Kompetenzen.

MD: Wir reden ja schon seit Jahrzehnten vom „grenzenlosen Unternehmen“, von integrierten Supply Chains, von Collaboration. Nur, wenn Sie heute Entscheider fragen, wo die häufigsten Probleme, Brüche, Ineffizienzen sind, dann werden Sie immer zu hören bekommen, dass das an den Schnittstellen von Abteilungen, Unternehmen, oder Kulturkreisen der Fall ist. Nach wie vor ist das Management von Beziehungen, die über das eigene Cluster hinausgreifen, keine Selbstverständlichkeit. Das ist eine Problematik, die den Menschen generell inhärent ist. Aber es ist auch eine Frage von Ausbildung und beruflicher Sozialisation.
Kritisch ist jetzt, dass wir uns diese Probleme nicht leisten können, wenn die Smart Factory wirklich Realität werden soll. Wir müssen Kulturen des Grenzgängertums schaffen und Menschen, die das können, systematisch suchen und fördern. Wir werden wohl in wenigen Jahren Systeme haben, die perfekt simultan übersetzen werden. Sie werden aber nicht die Menschen ersetzen, die „kulturelle Übersetzungen“ ermöglichen können.

Sind die Teams in Unternehmen auf diese enge Zusammenarbeit mit Kunden prozessual und kulturell überhaupt vorbereitet?

HW: Mit Sicherheit nicht in einem ausreichenden Maße. Wenn wir die Automobilindustrie anschauen, dann sehen wir in vielen Bereichen noch die alte Welt. Da wird entwickelt, was technologisch möglich ist und was der Schnittmuster-Kunde vielleicht kaufen möchte. Der tatsächliche Kundennutzen steht dabei nicht im Vordergrund, obwohl sich der gerade ändert. Dieser Kundennutzen ist heute eben nicht „ein Stück Auto“, sondern vielleicht „ich möchte von A nach B, und zwar jetzt und bequem“. Um nah am Kunden zu sein, seine wahren Bedürfnisse zu verstehen, schnell darauf zu reagieren oder die Kunden sogar in neue Ökosysteme mitzunehmen, hat die Automobilindustrie noch einen weiten Weg zu gehen. Der Wandel mag auf der Ebene von Serviceangeboten und Marketing-Programmen angestoßen sein. Aber er durchdringt noch lange nicht das gesamte Organisations- und Prozessgeflecht der Unternehmen.

MD: wir sehen, dass die Unternehmen diesen Gap zunehmend erkennen. Aber es ist eben keine Produktionsroutine, die es neu zu implementieren gilt. Es ist ein komplexer sozialer Transformationsprozess, der sehr intensiv gesteuert und moderiert werden muss.

In welchen Bereichen entstehen in der Smart Factory besonders dramatische Personalengpässe? Sind diese heute schon spürbar?

HW: Die Liste ist schon heute lang: Es fehlen Data Analysts, Industrial Data Scientists, Robotics and Industrial Automation Experts, Software Engineers, Smart-Machine Maintenance Engineers… Das kennzeichnet die digitale Transformation – der Personalbedarf entsteht sehr viel schneller, als unsere klassischen Ausbildungs- und Weiterbildungssysteme nachziehen können. Das führt natürlich nicht nur zu Engpässen, sondern auch zu Ängsten, zu neuen Bruchlinien quer durch Gesellschaften und Unternehmen.

MD: Das kann man auch nicht mit Appellen wegmoderieren. Führung bedeutet vor diesem Hintergrund auch, sich dieser Problematiken bewusst zu sein und dafür zu sorgen, dass das Band, das Organisationen heute zusammenhält, nicht reißt. Das ist eine gewaltige Aufgabe.

Datenspezialisten als Top 1 Hiring Priority, Mobilitätsökosysteme, elektrische Wende beim Antrieb – ist es überhaupt noch gerechtfertigt, Deutschland als Autoland zu bezeichnen?

HW: Ja, ich denke schon. Aber wir müssen schon neu definieren, was ‚Autoland‘ in den kommenden Jahren bedeuten kann. Wir können diese Definition nicht aus der Vergangenheit ziehen. Es ist ja heute schon absehbar, dass die Ausführung der Produktion von „Hardware“ in den kommenden Jahrzehnten nicht mehr der differenzierende Faktor in der Automobilindustrie sein wird. Die Bezeichnung „Designed in California, made in China“ – durch Apple legendär geworden – wird wohl auch in der Automobilindustrie Einzug halten. Die Automobilhersteller in Deutschland werden sich auf ihr Designtalent, auf Forschung und Entwicklung der Produkte, auf die Entwicklung von Produktionstechnologien und Algorithmen, auf ihre fast konkurrenzlose Markenstärke sowie die Entwicklung von Servicemodellen und Ökosystemen konzentrieren müssen. Und wenn wir von Forschung und Entwicklung sprechen, dann geht es dabei natürlich auch um die Entwicklung von hochkomplexen, wettbewerbsdifferenzierenden Produktionssteuerungsalgorithmen, die sich aus Software-, Technologie- und Prozesswissen speisen. Wenn diese Neuerfindung gelingt, dann bleibt Deutschland Autoland. Ich bin zuversichtlich, dass wir die Kraft dazu haben.

Herr Weber, Herr Derakhchan, vielen Dank für dieses Gespräch!

Interviewpartner

Heiko Weber ist Partner von Berylls Strategy Advisors und u.a. spezialisiert auf die Themenfelder Digital Operations & Manufacturing.