Dr. Rene Kusch im dla Interview über digitale Führung

Marcel Ramin Derakhchan30. April 2018

Im Google Sprint zum digitalen Unternehmen und per App zur TOP-Führungskraft? Wie Manager bei der digitalen Transformation Irrwege in Buzzword-Sackgassen vermeiden, schildert Dr. phil. René Kusch, Inhaber der RELEVANT Managementberatung, im ersten Teil des „Perspektiven“-Interviews mit Marcel Derakhchan, Geschäftsführer der DLA Digital Leaders Advisory.

Herr Dr. Kusch, Apps wie „Skill Hero“ versprechen eine Weiterentwicklung von Führungsfähigkeiten per Smartphone: Zielformulierungen, Trigger zum idealen Verhalten und Ergebnisstatistiken inklusive. Lässt sich gutes Management tatsächlich mit der Algorithmus-Logik einer Fitness-App trainieren?

Dr. René Kusch: Naja, etwas mehr Einsatz als der Griff zum Smartphone ist schon gefordert. Wenn Sie von so einer App erwarten, dass die Sie in ein paar Wochen zum Projektmanagement-Virtuosen oder Spitzenverkäufer macht, dann können Sie auch von einer Fitness-App den Aufstieg zum Marathonläufer erwarten. Beides wird nicht passieren.

Das Beispiel zeigt aber schön, welche Erwartungshaltung heute sehr oft auf digitale Tools projiziert wird: einfache Lösungen für komplexe Probleme zu erhalten. Diese Rechnung geht aber nicht auf, da jedes Werkzeug, ob digital oder analog, ja in einem ganz bestimmten Kontext funktionieren muss.

Was ja bei der Frage, ob man als Manager ein Team in den Erfolg oder Misserfolg führt, noch schwieriger sein dürfte als beim Aufbau von Muskelmasse …

Dr. René Kusch: Genau. In beiden Fällen sollte man jedenfalls zwischen Methode und Ziel differenzieren können. Die Methoden der Digitalisierung, seien es Apps und Cloud Anwendungen wie Office 365, Doodle, Slack etc., sind eben nur Werkzeuge. Viele selbsternannte Digitalisierungs- bzw. Transformationsexperten suggerieren aber, mit deren Einsatz auch synchron die Ziele einer agileren Organisation zu erreichen – etwa schnellere Reaktionsfähigkeit, höhere und genauere Lernfähigkeit oder einen effektiveren Wissensaustausch. Dazu ist aber noch viel mehr notwendig, nämlich ein Wissen um Lernkulturen und vor allem die Wirkmechanismen in der lernenden Organisation.

Dennoch gibt es ja auch viele Erfolgsbeispiele von Managern, die in ihren Teams zum Beispiel mit Social Collaboration Tools oder Skype-Meetings ganz neue Führungs- und Arbeitskulturen etablieren konnten. Was machen die aus Ihrer Sicht besser als andere, bei denen solche Versuche scheitern?

Dr. René Kusch: Ein Erfolgsfaktor ist sicherlich, den Einsatz digitaler Methoden nicht als Selbstzweck zu betreiben, sondern als Katalysator der Individualisierung von Entwicklungsprozessen. Mit der Digitalisierung nimmt der Detailierungsgrad von Daten zu, sprich ich habe immer genauere, „granularere“ Informationen über Fähigkeiten, Vorlieben, Verhaltensweisen und Handlungsmuster.

Die von Ihnen genannten Management-Pioniere berücksichtigen nun aber zwei Handlungsfelder, die wie zwei Seiten einer Medaille nicht voneinander zu trennen sind. Erstens, diese „Granularität“ muss ich nutzen, um meine eigenen Führungsqualitäten im Sinne meiner eigenen Entwicklung kritisch zu hinterfragen. Zweitens, die Entwicklung von Mitarbeitern geschieht nicht im luftleeren Raum, sondern wie schon gesagt im Kontext der Organisationen. Dabei sollte man auch an die Mitarbeiter denken, die grundsätzlich nichts gegen Veränderungen haben, aber unsicher im Umgang mit den neuen Methoden sind. Ansonsten wird unnötiger Widerstand gegen die Veränderung riskiert.

In diesem Zusammenhang wird häufig der Begriff „VUCA“ verwendet. Was ist damit gemeint?

Dr. René Kusch: Das Akronym VUCA steht für Volatility (Volatilität), Uncertainty (Unsicherheit), Complexity (Komplexität) und Ambiguity (Mehrdeutigkeit). Die Veränderungen werden schneller, die Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge komplexer und es wird schwieriger, Konsequenzen vorherzusagen, die es für die Mitarbeiter gibt. Dementsprechend hat sich VUCA inzwischen bei Managern im angelsächsischen, aber auch zunehmend im deutschsprachigen Raum als Schlagwort bzw. Beschreibung dafür etabliert, dass organisationale Veränderungen eine neue Quantität und Qualität erreicht haben.

Mein Eindruck ist, dass VUCA oft nur als Trendbegriff verwendet wird, ähnlich wie „Agilität“ …

Dr. René Kusch: Ja, so treffend der Begriff ist, so problematisch ist leider seine inflationäre Verwendung. Wortreich die Chancen und Risiken von Disruption, Veränderungsdruck und Komplexität zu beschwören ist nun einmal einfacher, als konkret zu benennen, was damit eigentlich für das eigene Unternehmen oder die individuelle, persönliche Entwicklung gemeint ist. In diesem Punkt unterscheiden sich die Trendbegriffe und Buzzwords der Digitalisierung nicht von den Schlagworten, die in den letzten Jahrzehnten in Wirtschaft und Coaching inflationär gebraucht wurden. Allerdings gibt es heute tatsächlich ernstzunehmende Chancen, Organisationen gezielt und langfristig positiv zu verändern.

Und eine inflationäre Verwendung entwertet ja den Sinn und Zweck hinter den Schlagworten nicht automatisch. Um beim Beispiel „Agilität“ zu bleiben: die setzt einen langfristigen Planungshorizont voraus, der auf der Erkenntnis beruht, dass tradierte Muster und Regeln in komplexen Kontexten nicht mehr greifen und eine Veränderung unvermeidlich ist. Etwa wenn neue Wettbewerber in den Markt drängen oder sich die Anforderungen der Kunden ändern.

Was empfehlen Sie Managern, die zu dieser Erkenntnis gelangt sind

Dr. René Kusch: Sie sollten sich die Zeit nehmen, Routinen, Standards und Denkmuster zu betrachten, zu analysieren und zu differenzieren. Nur so lässt sich entscheiden, welche von ihnen auch im Kontext der neuen Herausforderungen weiter Wirksamkeit versprechen und wo überhaupt neue Ansätze nötig sind. Das minimiert auch unnötige Veränderungen. Ohnehin sollte man methodische Veränderungen nur dort einführen, wo sich die Transferkosten zu Gunsten des veränderten Ziels lohnen.
Im Austausch mit Managern haben wir schon mehrfach erlebt, wie diese Reflexion dazu führte, Veränderungsbedarfe im Kern zu verstehen und ernst zu nehmen. Das ist wichtig, um große Veränderungsprojekte auf das Wesentliche „herunter zu kochen“.

Wie Führungskräfte mit diesen Herausforderungen umgehen sollten und welche Veränderungen Themen wie „VUCA“ und „Agilität“ für ihre Rolle und Kompetenzen mit sich bringen, erfahren Sie im zweiten Teil des Interviews mit Dr. Kusch: „Selbsterkenntnis ist tot“.

Dr. René Kusch ist Inhaber der RELEVANT Managementberatung. Er begleitet Organisationen in Personalauswahl- und Entwicklungsprozessen. Mit evidenz-basierten Methoden und auf Basis einer langjährigen Expertise in der Zusammenarbeit mit Managern und ihren Teams entwickelt Dr. René Kusch pragmatische und langfristig wirksame Lösungen. RELEVANT ist offizieller Distributor für Hogan Assessment Systems.