„Diversity bedeutet das Ende der Naivität.“ Wozu Programme zur Frauenförderung? – Teil 1

Marc-David Rompf25. März 2019

Diversität gehört zu den Fragen, die besonders intensiv die gesellschaftliche und politische Agenda prägen. Doch aus unternehmensstrategischer Perspektive wird das Thema bislang kaum beleuchtet. Darüber, welchen Beitrag Diversität zu Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit leistet, welche Voraussetzungen erfolgreiche weibliche Führungskarrieren benötigen und warum erst die Verschiedenartigkeit der Stimmen einen guten Chor ausmacht, spricht Marc-David Rompf mit den Organisations- und Veränderungsexpertinnen Dorothea Derakhchan und Christine Solf

Marc-David Rompf: Frau Derakhchan, Frau Solf, auf den Punkt gefragt: warum gibt es spezielle Programme zur Förderung von Frauen in Unternehmen?

Dorothea Derakhchan: Weil diese Programme wichtig sind. Frauenförderung ist keine Kosmetik, es ist keine Frage der Gerechtigkeit, es ist mehr als die Erfüllung gesetzlicher Vorgaben – und es ist auch mehr als die etwas einseitige politische Diskussion, die wir haben. Die Förderung weiblicher Talente und weiblicher Führungskarrieren ist vielmehr eine strategische Entscheidung, die starken Einfluss auf den Unternehmenserfolg hat. Immer mehr Unternehmen erkennen das inzwischen.

Worin liegt der strategische Wert dieser Programme? Was ändert sich in einem Unternehmen, in dem Frauen einen angemessenen Anteil an den Schlüsselpositionen haben?

DD: Heterogenität, Diversität, Vieldeutigkeit – das prägt doch heute unser gesamtes Leben. Das schafft Komplexität, eröffnet aber auch neue Chancen. Wenn Unternehmen diese Entwicklungen nicht auch intern nachvollziehen, verlieren sie die Verbindung zu ihrer Umwelt und das Verständnis für eine zunehmend heterogene Kundenlandschaft. Die einseitige Orientierung an Effizienz, Eindeutigkeit, Gleichtaktung und Konkurrenz sind kennzeichnend für „die alte Welt“, das heißt die angestammten, sehr homogenen und hierarchisch geprägten Kulturen. Damit kommt man der neuen Realität nicht wirklich bei. Diverse Teams können dagegen durch die Akzeptanz und Integration unterschiedlicher Sichtweisen, Ideen, Herangehensweisen und Erfahrungen deutlich erfolgreicher agieren.

Christine Solf: Diversität ist die Quelle für Innovationsfähigkeit und Kreativität. Solche Teams schaffen es, komplementäre Kräfte und Handlungsstrategien auf gemeinsame Ziele auszurichten und wesentlich reichhaltigere Zukunftsbilder zu erzeugen.

Bedeutet das, dass Unternehmen strategische Potenziale und Wachstumschancen vergeben, wenn sie nicht gezielt auf Diversität setzen?

CS: Ja, so ist das. Unternehmen entgehen dadurch manifeste Chancen und Potenziale. Ihnen entgehen Talente und Innovationsfähigkeit, Kooperations- und Empathie-Erlöse. Denken und Handeln im Unternehmen sollten ausgewogen sein, nicht einseitig.

DD: Diese Ausgewogenheit ist ein essenzieller Beitrag zur Wertsteigerung und Wettbewerbsstärke. Und auch zur Resilienz in Krisen oder auch in „nur“ sich schnell verändernden Kontexten. Die spannende Frage, welche Mischung fruchtbar für ein Team ist, ist dabei immer wieder neu zu beantworten: etwa in Bezug auf fachliche Hintergründe, Kulturen, Geschlechter oder Persönlichkeitstypen.

Wie muss man sich die Zusammenarbeit in einem solchen Team oder Unternehmen vorstellen? Was ist anders?

CS: Es wird Zusammenarbeit möglich, die die besten Qualitäten aus verschiedenen Welten intelligent kombiniert. Beispielsweise Fokus, Stärke, Durchsetzungs- und Überzeugungskraft mit Offenheit, Beziehungskompetenz, Dialogbereitschaft, Empathie, Intuition und Vertrauen. Das sind die besten Voraussetzungen für Innovation, Kreativität und Commitment.

Wenn die Gestaltungskräfte aller Beteiligten bekannt und zudem auf gemeinsame Ziele ausgerichtet sind, erleben wir eine ganz andere Energie im Raum. Aus der kann dann Freude an der gemeinsamen Arbeit, geteilter Sinn und auch Erfolg entstehen. Und was ganz wichtig ist: eine tüchtige Prise Humor sorgt gerade in heterogenen Teams für viel Zusammenhalt und gegenseitiges Verständnis und hilft, die Unterschiede auf eine leichte, spielerische Weise zu verbinden.

DD: Das ist wie in meinem Gospelchor. Dort übt zunächst jede Stimme für sich mit dem Chorleiter. Die hohen Stimmen allein klingen sehr hell, die ganz tiefen Töne sehr dunkel. Wenn aber alle Stimmen das Lied zusammen singen, ist es immer ein bewegendes und ergreifendes Erlebnis, weil sie sich zu einem harmonischen, ausgewogenen und vollkommenen Ganzen verbinden. Entscheidend ist dabei, dass jeder gut hinhört, sich auf die anderen einstimmt und dann das Beste aus sich herausholt – zum Wohle des Ganzen. Und die erfahrene Führung, die die Stimmen orchestriert, ist in diesem Zusammenhang natürlich zentral. Und dann ist das Ganze auf einmal mehr als die Summe seiner Teile. Wenn allerdings eine Tonalität dominiert, oder wenn man jeden zwingen wollte, in einer mittleren Tonlage zu singen, erreicht man dieses Ergebnis nicht.

Sie plädieren für das Neben- und Miteinander von Unterschieden?

CS: Genau – und dafür, dass wir uns die Arbeit machen, Vielfalt zu nutzen. Denn für eine positive Wirkung muss ich sie zunächst sichtbar und „besprechbar“ machen. Das kann damit beginnen, dass Führungskräfte genauer hinschauen und bewusster auswählen. Oder dass Teams beginnen, sich dafür zu interessieren, wie sie eigentlich zusammen ticken.

Es geht zum Beispiel nicht darum, geschlechtsspezifische Stärken und Schwächen zu negieren oder zu camouflieren. Das ist naiv. Sondern sie zu reflektieren und möglichst virtuos zu kombinieren. Das ist zunächst komplex und anstrengend und zwingt alle Beteiligten zu Selbstreflexion und einem ehrlichen und wahrhaftigen Umgang miteinander. Es erfordert echten Kontakt, gute Kommunikation, Konfliktfähigkeit und Klarheit. Nimmt man Diversität ernst, dann geht es um das Ende der Naivität – für die Frauen wie die Männer.

Es scheint aber, dass dieser ausgewogene Chor bisher eher selten zustande kommt. Warum dominieren auf den meisten Chefetagen nach wir vor so stark die männlichen Stimmen in den Unternehmen?

DD: Das hat mehrere Gründe. Zunächst existieren in Organisationen, Teams und einzelnen Personen Veränderungsresistenzen und Beharrungskräfte. Sie ähneln einem Immunsystem, dass alles, was die etablierte Struktur bedrohen könnte, bekämpft. Die herrschenden Rituale, Machtbalancen, Kulturelemente und Werte verleihen uns Sicherheit. Das führt zur fortwährenden Reproduktion der bestehenden Ordnung. Diese Muster sind fast immer unsichtbar, sie werden fast immer unbewusst reproduziert. Und sie sind unglaublich mächtig.

Das führt auch dazu, dass Manager, die übrigens besonders häufig Thomas oder Michael heißen, fast immer den nächsten Thomas oder Michael als Nachfolger aufbauen – und eben bisher nur in Ausnahmefällen eine Elisabeth oder Barbara. Unternehmen tun sich sehr schwer damit, diese Reproduktionsmechanik zu brechen. Der Anteil der Frauen, die einen Hochschulabschluss machen, hat sich in nur einer Generation verdoppelt! Aber in zehn Jahren ist der Anteil der weiblichen Führungskräfte in Deutschland um nur ein Prozent gestiegen. Neun von zehn Vorständen und sieben von zehn Führungskräften sind nach wie vor männlich. Solche Werte weisen zum Beispiel auch Indien oder die Türkei auf.

CS: Damit fehlen dann auch weibliche Vorbilder. Und sehr viele Frauen scheuen sich davor, sich klare Karriereziele zu setzen, sichtbarer und erfolgreicher zu werden. Sie treffen wesentlich seltener als Männer eine karriereorientierte Studien- und Berufswahl, sie arbeiten zu oft unterbezahlt und unterbewertet hinter den Kulissen und in unterstützenden Funktionen. Sie nutzen Netzwerke nicht strategisch genug und bemühen sich seltener um Mentoring und Unterstützung. Frauen hadern in Unternehmen sehr oft mit der „Quadratur des weiblichen Kreises“: inhaltliche Kompetenz, „Likeability“ und Durchsetzungsstärke unter einen Hut zu bringen. Dieses Muster gilt es zu brechen und Frauen berufliche Entfaltungschancen zu ermöglichen, die nicht strukturell beschränkt werden. Genau darauf zielt unser Programm „iLead. Make it your Game“ bei Accenture ab. Frauen mit Potential begeben sich gemeinsam mit Sponsoren aus dem Top Management und begleitet von Coaches auf eine Entwicklungsreise.

Den zweiten Teil der Interviews finden sie hier.

Interviewpartner

Dorothea Derakhchan ist Trusted Advisor und Potenzialentfalterin für Führungskräfte und Unternehmensberater. Sie ist Gründerin und Geschäftsführerin der auf Coaching, Beratung und Training spezialisierten Boutique Almadera Consulting sowie Associate Partner der Personal- und Organisationsberatung dla.

Vor der Gründung von Almadera arbeitete die Volkswirtin viele Jahre in unterschiedlichen Führungspositionen in einem internationalen DAX-30-Konzern. Sie verfügt über umfangreiche Expertise in den Bereichen Organisations-, Zukunftsbild- und Leitbildentwicklung, gibt Trainings in Trusted Advisory und Führung auf Augenhöhe und begleitet ihre Kunden als Executive Coach bei individuellen Entwicklungs- und Veränderungsprozessen.


Dr. Christine Solf gestaltet unkonventionelle Entwicklungsprogramme für Talente und Führungskräfte. Als Senior Managerin der dgroup, einem Teil des Beratungsunternehmens Accenture, begleitet sie digitale Transformationen mit Fokus auf Organisationsentwicklung und der Einführung neuer Wege des Arbeitens und Führens. Die promovierte Soziologin mit systemtheoretischem Fokus nutzt diesen nachhaltig in ihrer Beratertätigkeit.

Ihre Arbeitsweise beschreibt sie mit #nag&nurture: mit unverstelltem Blick Situationen analysieren und adressieren, wo Veränderung hilfreich wäre, um diese dann beherzt zu begleiten. Diverse, komplementäre Teams und die Entwicklung weiblicher Führungskräfte sind ihr ein besonderes Anliegen, damit noch ungenutztes Potential zur Wirkung kommen kann – und damit Vorbilder und best practice sichtbar werden, die dann weitere Menschen motivieren, etwas Neues zu wagen.