Boris Behringer im dla Interview über Erfolgsfaktoren für die digitale Transformation

Marcel Ramin Derakhchan15. August 2020

Erfolgsfaktoren für die digitale Transformation von Unternehmen schildert Boris Behringer, Transformation Advisor, im Interview mit Marcel Derakhchan, Geschäftsführer dla digital leaders advisory.

Herr Behringer, laut Organisationsforschern wird ein „Digitaler Darwinismus“ das 21. Jahrhundert prägen. Ist das nicht sehr überspitzt? Warum sollten sich Unternehmen, die seit Jahrzehnten mit effizienten Hierarchien und gut funktionierenden Geschäftsmodellen erfolgreich sind, überhaupt verändern?

Ganz einfach: um zu überleben und ihren Erfolg zu sichern. Insofern ist das Bild vom „Digitalen Darwinismus“ durchaus passend. Dass ein Geschäftsmodell bisher gut funktioniert hat, ist ja nicht per se ein Erfolgsgarant für die Zukunft. Die Gefahr, diesem Trugschluss zu erliegen, ist insbesondere in einer Phase wirtschaftlicher Stärke groß, weil die Cash Cows ja noch liefern. Zuweilen kommt auch Verdrängung mit ins Spiel: Wandel ist nie einfach, insbesondere wenn mühsam optimierte Strukturen und Prozesse in Frage gestellt und hohe Risiken wahrgenommen werden. Man tendiert dazu, dies lieber auszublenden – was einfacher fällt, wenn Erfolge eine passende Begründung liefern. Das ist eine zutiefst menschliche Reaktion.

Digitale Technologien verändern jedoch rasant unsere Welt, im Privaten ebenso wie in der Wirtschaft. Dieser Veränderungsdruck erfordert, dass Unternehmen dynamischer werden. In den starren Strukturen, in denen z.B. viele deutsche Industrieunternehmen heute aufgestellt sind, lässt sich das gar nicht abbilden. Zugleich entstehen überall neue Geschäftsmodelle, getrieben von kleinen, schlanken, innovationsgetriebenen Unternehmen. Und die großen Tech-Konzerne aus den USA und China investieren massiv in Technologien wie digitale Plattformen oder KI, um die Geschäftsmodelle aller möglichen Branchen ganz offensiv anzugreifen. Das wird vor kaum einem Unternehmen halt machen.

Mit dieser Dramatik scheint das aber bei vielen Entscheidern noch nicht angekommen zu sein. Die Anzahl von Digital-Buzzwords mag ja im Leitbild, in Management-Meetings und im Geschäftsbericht zugenommen haben. Aber in den Abteilungen herrscht oftmals rasender Stillstand, etwa bei Investitionsentscheidungen für neue Technologien. Woran liegt das?

Vielen Führungskräften ist ein ganz wichtiger Punkt noch überhaupt nicht bewusst: im Zeitalter der Digitalisierung ist die Position ihres Unternehmens in der Wertschöpfungskette nicht länger stabil. Früher sorgten die Intellectual Property, also Spezialwissen, Patente und deren regelmäßige Weiterentwicklung für Handlungssicherheit: ab und zu traten neue Wettbewerber aufs Spielfeld, aber das Spiel an sich und die eigene Rolle darin folgten einem klaren Rahmen.

Die disruptive Kraft der Digitalisierung liegt aber eben darin, Unternehmen zu einem komplett neuen Spiel zu zwingen, dessen Regeln sie gerade erst erlernen. Ein Spiel, in dem der Kunde oder neue Player ihre gewachsene Position in der Wertschöpfungskette in Frage stellen. Ein gutes Beispiel ist die Automobilbrache – dort baute man einerseits viel Digitalisierungs-Knowhow auf, etwa in der Fertigungsautomatisierung. Andererseits wurde lange Zeit unterschätzt, welche Potenziale in datengetriebenen Geschäftsmodellen liegen, etwa beim Thema Connected Cars. Hier konnten sich andere Anbieter wie Google, Apple und Co. dazwischenschieben. Wodurch die OEM wiederum mittel- oder langfristig in die deutlich schwächere Position geraten könnten, mit Karosserie und Antrieb nur noch die Hardware für das eigentliche Geschäft mit den Fahrerdaten zu liefern.

Nun würde wahrscheinlich jede Unternehmensleitung diesen Wandel lieber aktiv mitgestalten, anstatt nur darauf zu reagieren. Was ist dazu notwendig?

Die Entwicklungsfähigkeit der Organisation ist der Schlüssel. Momentan sind die Strukturen in den Unternehmen auf Effizienz und eine evolutionäre Weiterentwicklung getrimmt, also auf eine Verbesserung dessen, was man schon immer getan hat. Nun sollen aber neue Geschäftsmodelle entwickelt werden, möglichst dezentral ganz nah beim Kunden und mit hoher Agilität. Damit verlangt man hierarchischen Strukturen etwas ab, das so gar nicht in deren „Genen“ liegt.

Manager brauchen stattdessen den Mut, ihre Organisationen zu defragmentieren: Weitgehend autarke Einheiten haben alles an Board, um sich schnell und flexibel zu entwickeln. Das ist die Abkehr vom Aufbau der zentralen, kundenfernen Unterstützungsfunktionen. Flexible Netzwerkstrukturen ergänzen oder ersetzen je nach Branche die hierarchischen Strukturen und Silos.

Welchen Ansatzpunkt empfehlen Sie?

Um so einen Wandel anzustoßen, liegt die erste Hausaufgabe bei der Geschäftsleitung: Die Organisation braucht einen neuen Rahmen, in den sie schrittweise hineinwachsen kann. Dieses Vorgehen unterscheidet sich deutlich von klassischer Organisationsentwicklung. Strukturen und Inhalte werden deutlich weniger granular vorgegeben, dafür liegt der Schwerpunkt auf neuen Rollen – insbesondere auch für Führungskräfte – und einem breit getragenen Unternehmenssinn. Dabei ist übrigens kein Verlass auf die Strahlkraft von Leuchtturm-Projekten. So ein Ansatz scheitert in der Regel. Der Schlüssel liegt darin, den Raum für Initiativen im gesamten Unternehmen zu öffnen und diese aktiv zu befeuern und zu unterstützen.

Damit geht doch aber eine erhebliche Komplexität einher – wer managed die so, dass am Ende des Tages Ergebnisse entstehen? Ist hier ein „Digital Leader“ die richtige Instanz, also ein CDO auf Vorstandsebene oder Abteilungsleiter, die sich ganz auf die digitale Transformation konzentrieren?

Die notwendige Flexibilität für neue Geschäftsmodelle erreichen Sie nicht, indem Sie ein paar zusätzliche Top-Manager „installieren“. Die können noch so brillant sein, am Ende ist der Erfolg immer davon abhängig, wie stimmig der Dreiklang aus Organisation, Mensch und Technologie orchestriert wird. Und das funktioniert nur im Team. Die Menschen innerhalb und außerhalb einer Organisation wollen ja nicht, dass in der Unternehmensleitung nur ein Manager für die Zukunft steht, sondern alle. Deswegen ist zuallererst ein neues Führungsparadigma notwendig – nämlich das einer sinn- statt effizienz-orientierten Führung.

Leider wird dieser Punkt in der Diskussion über „Digital Leader“ oft ausgeblendet. Das sind eben nicht nur Tech-Gurus und IT-Geeks, sondern in erster Linie Führungskräfte, die verstanden haben, wie sie in der Digitalen Realität ganz neue Strukturen, Arbeitsformen und Wege schaffen, damit Mitarbeiter kreativ, vernetzt und gleichzeitig auch effizient arbeiten. Dafür bedarf es eines ausgeprägten Bewusstseins der Unternehmensleitung über die Entwicklungsrichtung und den Sinn der Organisation – und über den eigenen Beitrag dazu. Das nehmen die Mitarbeiter, aber auch Kunden und weitere Stakeholder wahr. Da gehört man gerne dazu, mit dem Unternehmen will man sich verbinden.

Sehen sie nicht die Gefahr, dass Führungskräfte nur Lippenbekenntnisse zum digitalen Wandel beitragen, letztendlich aber vor allem am Erhalt der eigenen Macht bzw. des Status Quo interessiert sind?

Natürlich, aber diese Strategie ist zum Scheitern verurteilt. Das passiert auch nur, solange ich mir als Führungskraft keine andere Zukunft für mich und das Unternehmen vorstellen kann. Führungskräfte müssen für sich die Frage beantworten: Was ist meine Rolle in der Zukunft, was trage ich bei? Das kann eine Herkulesaufgabe sein, für die Unterstützung erforderlich ist. Kein Unternehmen sollte seine Führungskräfte dabei alleine lassen.

Es braucht dafür drei Zutaten, die aufeinander aufbauen: Vorstellungskraft, Zuversicht und Mut. Viele Führungskräfte, mit denen ich gesprochen habe, fürchten für sich einen Bedeutungsverlust, der mit Abbau von Hierarchiestrukturen einhergeht. Aber das ist nicht so. Der Einfluss neuer Führungsrollen ist ebenso groß. Das Management von Portfolios anstelle von Bereichen oder die Verfolgung eines Investment-Ansatzes anstelle der Verwaltung eines Investitionsplans eröffnen ganz neue Spielfelder für erfahrene Führungskräfte. Diese Vorstellungskraft muss geweckt werden, etwa mit Hilfe von Werkzeugen aus dem Bereich „Mindful Business“.

Bedeutet das, jeder Manager sollte nun wie Elon Musk oder Richard Branson agieren?

Nein, das sind natürlich Sonderfälle. Jedes Unternehmen hat seinen eigenen Platz, seine eigenen Herausforderungen und nicht jeder CEO verfolgt das Ziel, eine so starke Vorreiterrolle in seinem Markt zu besetzen. Auch als „Hidden Champion“ können Sie extrem erfolgreich sein, ganz ohne mediale Omnipräsenz.

Was aber beide perfekt beherrschen ist, sich in neue Strukturen hineindenken zu können. Und in noch einem Punkt haben beide durchaus eine Vorbildfunktion: der Sinn ihres unternehmerischen Handels folgt dem „Wofür?“, nicht dem „Warum?“. Das ist ein feiner, aber erheblicher Unterschied, denn diese Fragestellung impliziert ein der Gesellschaft dienendes Element. Genau das sind Kernkompetenzen, die Führungskräfte benötigen, um ein Team bzw. ein Unternehmen in die Zukunft zu führen.